Der wassertropfen

Cristina Maffei

 

Nach vielen Jahren kommt mir wieder eine Geschichte in den Sinn, die ich meinem kleinen Sohn am Abend, bevor ihn der Schlaf übermannte, häufig vorlas.
Ich hoffte, dass die letzten Worte des Tages ihn auf seinem Weg in die Welt der Träume begleiten und ihm somit einen ruhigen und friedlichen Schlaf bringen würden. Daher wählte ich süße, sanfte und beruhigende Worte, um ihm, nach den Mühen und Unruhen des Tages, Frieden und Sicherheit zu vermitteln.
Auch für ein Wesen, das erst in den Anfängen seines Lebensweges steht, sind die täglichen Verpflichtungen ausgesprochen schwierig und im Vergleich zu den wenigen Erfahrungen, die er besitzt, um diese zu bewältigen, von unermesslicher Größe.
Er bevorzugte zwei Erzählungen. Die eine war weniger anspruchsvoll und eher fantastisch, die andere hingegen lehrreich und real. Und gerade einige Stellen dieser letztgenannten waren für uns zu einem wahrhaftigen Kinderreim geworden, den wir im Einklang ständig wiederholten und vor uns hinsangen. Wir wetteiferten, wer sich wohl am schnellsten an die Abschnitte erinnern würde, die uns am besten gefielen. Auch ich liebte es, diese Geschichte zu erzählen, da sie mich zu meinen Ursprüngen in die Berge zurückführte und mir gleichzeitig die Möglichkeit gab, meinem Sohn deren Reinheit zu offenbare, doch auch und insbesondere, da sie als Allegorie des Lebens selbst zu verstehen war. Die verwendeten Zeichen und Abbildungen waren auf einfache Art didaktisch und erklärten den Lebensweg des Wassers; doch die Situationen, die Konzepte und die Kontexte waren eher als Metapher der Existenz selbst zu deuten.
" Ich heiße Chiara und bin ein Wassertropfen. Ich bin in einem riesigen Gletscher gefangen, der sich in einer Mulde hoch oben auf einem imposanten gewaltigen Berg erstreckt. Es ist Frühling, die Sonne scheint warm und der Gletscher bewegt sich sehr langsam zum unterliegenden Tal. Über mir öffnet sich ein unglaublich blauer Himmel und ein einsamer Adler fliegt in östliche Richtung. Gemächlich schmilzt ein bisschen Eis und aus dem sich bildenden Wasser entsteht ein lebhafter und glänzender Bach. Auch der Schnee auf den Hängen des Berges ist geschmolzen und so fließt nach und nach immer mehr Wasser in diesen Wasserlauf, der sich so ganz allmählich in einen ungestümen Sturzbach verwandelt.
Nun bin ich frei, ein glücklicher Wassertropfen, umgeben von vielen Gefährten, die wie ich berauscht sind von diesem verrückten Lauf, der uns durch die faszinierendsten Berglandschaften bis unten ins Tal führt…" *
Chiara ist ein Wassertropfen, der von seiner Entstehung an bis zum Epilog Gefühle und menschliche Empfindungen erlebt.
Auf seiner anstrengenden Lebensreise besucht er verschiedene unbekannte Orte, trifft auf andere ihm ähnliche oder unterschiedliche Tropfen, überwindet zahlreiche Hindernisse, durchlebt dunkle Momente der Benommenheit und Traurigkeit sowie andere, die sich aus Lichtblicken und Glücklichkeit zusammensetzen. Auf dem Weg zu seinem Ziel verliert er viele Gefährten, die andere Routen wählen, fühlt sich häufig überfordert und verängstigt, doch manchmal auch sicher und neugierig auf dieses Abenteuer, das nie zu enden scheint.
Er kennt die Quelle, aus der er entsprungen ist, doch weiß nicht, wo seine Reise sich beschließen wird.
Doch ist er überzeugt davon, dass irgendwo unter dem unendlichen Himmelszelt immer ein frischer kristallklarer Wasserlauf existiert, dem er sich instinktiv anvertrauen kann und der ihn im Rausche seiner Rettung und reinen Freiheit mit sich führen wird.
"….bis er schließlich zu einem Bestandteil einer geschmeidigen und hellen Wolke wird. Wir entfernen uns ganz langsam, angetrieben von einer leichten Brise, und nach nur kurzer Zeit fallen wir erneut auf den Gletscher hinab, wo meine Reise begann. Vielleicht begebe ich mich bald wieder auf diese Reise, doch ich hoffe, dass der Mensch mir bis dahin eine bessere Umwelt geschaffen hat…".

**Text aus: ´´La storia del tuo bicchiere d'acqua`` (Die Geschichte von deinem Wasserglas), herausgegeben von dem Konsortium für die Trinkwasserversorgung der Gemeinden in der Provinz von Mailand, in Zusammenarbeit mit dem Schulamt von Mailand.
Druck: Amilcare Pizzi Arti Grafiche S.p.A.- III Auflage 1993.

 

 
 

 

 

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