Kurz

 

Wohnen im Cyberspace

Antonio Tursi

L'écho Su-Mei-Tse 2003

 

 

Die Technologie bringt immer mehr Systeme hervor, die ohne bestimmte Grenzen verstreut, in vielen Fällen hoch entwickelt und mit anderen natürlichen, wie auch künstlichen Systemen verknüpft sind. Deshalb ist es in der Kultur des Lebensraumes unvermeidlich, den Einfluss der Medien und deren Kontrolle über das Bewusstsein zu berücksichtigen.

 

 

 

Wounds and absent Kapoor

 

 

Ski Mirror Anish Kapoor

 

 

Ski Mirror Anish Kapoor

 

 

 

 

 

Der Verantwortliche für die Verbreitung dieses Terminus ist bekannt: Es handelt sich um William Gibson, der in seinem Roman Neuromancer darüber schrieb. "Cyberspace: eine Konsens-Halluzination, tagtäglich erlebt von Milliarden zugriffsberechtigter Nutzer in allen Ländern, von Kindern, denen man mathematische Begriffe erklärt... Eine grafische Wiedergabe von Daten aus den Banken sämtlicher Computer im menschlichen System. Unvorstellbare Komplexität. Lichtzeilen im Nicht-Raum des Verstands, Datencluster und -konstellationen. Wie die zurückweichenden Lichter einer Stadt."
Halten wir uns jedoch nicht länger mit der Nützlichkeit und den Vorwegnahmen der Science-Fiction als zukünftige Soziologie auf. Der betreffende Terminus hatte Glück, sogar großes Glück. Er wurde von Wissenschaftlern aller Bereiche angewandt (vom Ingenieurwesen bis hin zur Soziologie, von der Philosophie bis hin zur Psychologie), um die aus den neuen digitalen und vernetzten Technologien entstehende Realität zu beschreiben. Dieser verbreitete Gebrauch hat zur Entstehung eines neuen Allgemeinplatzes beigetragen - ein Platz, in dem sich eine Gesellschaft wieder findet. Wie jeder andere Allgemeinplatz hat jedoch auch dieser seine Besonderheit verloren und erscheint wie eine Art Schirm für unterschiedliche Technologien und unterschiedliche Ge- und Missbräuche. Was versteht man nun unter Cyberspace?
Abgesehen von einer derzeit verfügbaren technologischen Anhäufung verstehen wir unter Cyberspace die Gesamtheit kommunikativer und daher auch körperlicher Beziehungen, die durch jede im digitalen und vernetzten Zeitalter verfügbare Technologie vermittelt wird. Das bedeutet, dass wir diesen Terminus benutzen, um ein Spannungsfeld von Beziehungen zu beschreiben, dem wir mittlerweile täglich ausgesetzt sind. Wie jeder Bereich stellt auch der Cyberspace nicht nur einen leeren Behälter dar, unabhängig von den Kraftvektoren, die seine Struktur ausmachen und davon beeinflusst werden. Der Cyberspace stellt in diesem Sinn ein post-metropolitanes Szenarium unseres sozialen Handelns dar: der Bezug von Gibson auf die Lichter der Stadt ist deutlich erkennbar.
Darin ist auch die interpretative Wertigkeit enthalten. Mit diesem Terminus wird ein komprimiertes Bild nicht eines Instrumentes, wie es bei Termini neuer Technologien und Medien (Internet, Web) der Fall ist, sondern eines Umfeldes dargestellt, in dem man wohnen kann. Die Metapher des Raumes ist nicht nur eine Metapher, sondern vielmehr eine unmittelbar abweichende und tiefere Eigenschaft des Themas. Als Lebensraum sind die Medien keine Fremdkörper in unserem Alltag sondern Fragmente der Welt, die es uns ermöglichen, auf der Welt zu bestehen und die Welten unseres Lebens zu schaffen. Es ist kein Zufall, dass die jüngsten Entwicklungen im Bereich der elektronischen Technologien mit der kapillaren Verbreitung der Technologie in unserem Lebensraum zusammenhängen (von Ubiquitous Computing zu Internet Zero). Am Ende wird unsere Metapher zu einer buchstäblichen Beschreibung der Realität, die wir immer unerwarteter wahrnehmen.
Gibsons Theorie bietet jedoch auch andere Denkanstöße. Zu diesen zählt vor allem jener, dass der Cyberspace nicht auf eine vorherrschende Logik reduziert werden kann: Die Halluzination wird nicht von einem Zentrum induziert, von einem Palmer Eldritch wie im Roman von Philip K. Dick, sondern konsensuell erlebt; die Daten stellen eine undenkbare Komplexität dar, die nicht nur auf ein Konzept reduziert werden kann und deshalb nicht greifbar ist. Die zu der beträchtlichen Zahl neigende Ordnung wird durch die Cowboys der Konsole, also durch uns alle, instabil. Der Cyberspace ist kontingent, er ist das Resultat einer nicht-linearen Reihe von Kontakten und Verknüpfungen. Keine Grundlage garantiert deren Existenz, denn nur die konstante Praxis der Freiheit und der Verantwortlichkeit der Entscheidung ermöglicht das Entstehen und die Konsolidierung dieser neuen Dimension des Lebens, die einen eigenen Lebensraum bildet. Dieser Lebensraum ohne einschränkende Wände oder aufzustoßende Türen wird jedoch gestört von der kontinuierlichen Überheblichkeit, wobei wir selbst als Überheblichkeit fungieren; ein Lebensraum in ständiger Verwandlung.
Diese tägliche Dimension des Cyberspace sowie die Tatsache, dass sie nicht auf eine vorherrschende Logik reduziert werden kann, stellen sicher, dass dieses technisch-wissenschaftliche Unternehmen keine neue Grenze öffnet, die man besiedeln könnte. Die Grenze wurde vom imaginären Amerikaner mit der Eroberung seines Territoriums (der Mythos des Weiten Westen) bis hin zur Eroberung des außerirdischen Lebensraumes (Raumfahrtmissionen) gezogen. Der Geist der Grenze spielte mit Sicherheit eine entscheidende Rolle mit Beginn des Cyberspace; dies stellte eine unverzichtbare Bedingung für dessen Entstehung dar: der Cyberspace ist die Öffnung einer neuen Grenze, eines neuen Umfelds gewesen. Sein virtueller Charakter verhindert jedoch seine Kolonialisierung. Der Cyberspace ist keine Utopie, die den Kosmismus (progressistischer Mythos der Eroberung der Sterne durch die Menschheit, die den kapitalistischen und kommunistischen Geist vereinen kann) ablösen soll. Die tägliche Möglichkeit, eigene Inhalte beizusteuern und jene der anderen herunterzuladen (zum Beispiel mit eMule), nimmt dem Cyberspace seinen utopischen Charakter. Der Cyberspace ist die Öffnung zu einer anderen Welt im unserem Alltag.

 

 

 

 

 

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