juni 2013
Nummer 13

Die unsichtbaren Berge des Altais

Nicolas Boldyc

 

Die unsichtbaren Berge des Altais image

 

Laut dem Geographen Tatitchev stellt das alte Uralgebirge die Barriere zwischen Europa und Asien dar, während der Kaukasus eine scharfe Grenze zwischen der russischen Steppe und dem Nahen Osten zeichnet. Es handelt sich um zwei Bergketten, die tatsächlich Ausdruck einer vielfältigen Symbolik sind. 4000 km von den ersten Meeresufern entfernt, im eurasischen Kontinent verhüllt, ist der Altai ein unsichtbarer, wenig bekannter Berg, mit einer Geschichte, die noch geschrieben werden muss. Es ist schwierig, ihn allein mit der eigenen Phantasie zu erreichen, denn er ist viel zu schmal, um auf der Karte eingezeichnet zu werden, und dennoch ist er die tragende Säule des „Weltkontinents‟ Eurasien. Die Gebirgskette des Altais erstreckt sich in Bereich von vier nationalen Grenzgebieten: Russland, Mongolei, Kasachstan und China.
Der Name Altai entstand aus zwei türkischen Begriffen: Al, das Gold und Dag, der Berg; der Goldberg. Diese Bezeichnung scheint ad hoc geprägt worden zu sein, um die Langwierigkeit eines Reifungsprozesses auszudrücken, der im Moment seines Zu-Tage-Tretens Überraschung und Verwunderung erzeugt.

Die unsichtbaren Berge des Altais image

Der Reifungsprozess
Und eine Überraschung gab es bei der Entdeckung des Goldes, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Provinz von Rudny Altai, metallhaltiger Altai, erfolgte, wohin sich zu diesem Anlass sogar der Gelehrte Wilhelm von Humboldt begab.
Allerdings haben sich die vom Menschen hinterlassene Spuren als wertvoller und nachhaltiger herausgestellt.
Die durch die beiden Elementen Isolierung und Kälte charakterisierten Goldberge (Gletscher und typisches Klima des Permafrosts) sind ein Ort, an dem sich die Werke und Körper der Vorfahren am besten und länger konservieren als anderswo.
Ein Jahrhundert nach der Entdeckung des Goldes sind es gerade die (mit Stickereinadeln) tätowierten Körper der Skythen-Oberhäupter und die handgefertigten Erzeugnisse der Goldschmiedekunst, die auf der Steppenhochebene von Ukok aus dem Eis hervorgehen. Auf diese Weise ist die Kurgan-Zivilisation hervorgetreten mit seinen Hügelgräbern, in denen die Skythen-Oberhäupte beerdigt wurden. In den 90er Jahren tritt seinerseit „das Mädchen aus dem Eis‟, eine Frauenmumie, aus ihrer tausend Jahre alten Vergangenheit hervor.
Altai erzeugt ein Echo der tiefen Rhythmen der Steppe, die der Historiker Lev Gumilev erwähnt: Eiszeit, Eisschmelze, Vor- und Rückwärtsbewegung der Steppe, Entstehung, Verschwinden, Durchgang der nomadischen Völker wie Skythen, Sarmaten, Türken, Mongolen, Kalmücken…

Insel und Ökosystem
Die unsichtbaren Berge des Altais image Dennoch, wenn es wahr ist, dass Altai die Körper der Ahnen verbirgt, ist es ebenso wahr, dass er ein außergewöhnliches Ökosystem des Lebens, der Flora und Fauna darstellt. Zwischen Steppe, Wüste und Taiga fungieren die Goldberge als natürliche Insel, an dessen Ufer sich die warmen oder eiskalten Wellen des Eurasischen Ozeans brechen.
Es ist als ob im Laufe der Jahrtausende, die Pflanzen und die Tiere der umliegenden Ländereien Zuflucht in diesen Bergen, deren unterschiedliche Höhen (Fastebene, mittelhohe und hohe Gebirge) die Entwicklung mehrerer miteinander verbundene Ökosysteme ermöglicht hat, gefunden hätten. Das ist die perfekte Umgebung für den Braunbären von Saïgoulem, der unbezähmbaren Pallaskatze, dem Argali (Wildschaf), dem Bartgeier oder dem legendären und begehrten Schneepanther.

Die unsichtbaren Berge des Altais image

Die Republik Altai
Der Bartgeier und der Schneepanther scheinen im Bild des Greifes zu verschmelzen – in der griechischen Mythologie der Hüter des Goldes – der das Wappen der Republik Altai ziert. Das Gebiet der 1922 gegründeten Republik entspricht etwa einem Viertel Frankreichs und spiegelt in jeder Hinsicht Altai wieder, aus dem der größte Teil des Territoriums besteht, der ein wahres Konzentrat an Landschaften, eine Insel, ein Ökosystem ist.
Aus diesem Grund sind drei Bereiche dieses Gebiets (Zapovednik) unter dem Begriff „Goldberge von Altai‟ zusammengefasst und von der UNESCO als Weltkulturerbe klassifiziert: das Gebiet von Ukok, stille, mit Wasserläufen durchfurchte Hochebene, das Gebiet des mächtigen Flusses Katun und des Berges Belucha und schließlich die große Region der Taiga, Steppe und Gletscher rund um den Teleckoe See.

Die unsichtbaren Berge des Altais image

Viele Ausländer sind überrascht, hier ein alpines Ambiente zu finden: Parterre mit Blumen, die mit mächtigen Wasserläufen durchzogen sind, starre alpine Steppen, Kargletscher, schneebedeckte Gipfel. Darüber hinaus sind die Höhen der Gipfel zwischen 2000 und 4000 Meter hoch, womit die Verwunderung nur noch mehr gesteigert wird. Es handelt sich um den am besten erhaltenen Berg, der langsamer ist, weil er noch nicht „motorisiert‟ ist und wo Pferde der nomadischen Hirten der Ethnie der Altai noch immer die Autos ersetzen.
In Wirklichkeit ist die Republik alles andere als isoliert, denn die Hauptstadt Gorno-Altajsk befindet sich nur 100 km von der transsibirischen Strecke und der Chuyski trakt, der großen Durchgangsstraße entfernt, die von Novosibirsk ausgeht und sie von Norden bis Süden durchquert, um sich dann mit den wichtigsten asiatischen Routen zu verbinden.
Wer von Novosibirsk, Moskau oder Chinesisch-Turkestan kommt, muss sicherlich eine Pause einlegen müssen, um Atem zu holen, genau wie es die alten Nomaden am Fuße dieser wirklich unsichtbaren Berge taten.