dezember 2012
Nummer 12

EINE GUTE FRAGE

Antonín Kosík

 

EINE GUTE FRAGE Antonín KosíkIch möchte ihnen hier die Geschichte von Ignacio Moreno Aranda erzählen. Obwohl die Begebenheit wahr ist, ist es umso verwunderlicher, dass der Betroffene von ihr überhaupt nichts weiß und nur die angeborene Höflichkeit es ihm nicht gestattet, sie ganz abzustreiten. Aber so ist Ignacio nun mal, am liebsten widerspricht er Niemandem. Er würde doch seinem Tischpartner und sich nicht die Freude beim Verspeisen von Grillen und Lammrippchen und der anschließenden Zigarre verderben. Ignacio sagt oft: „Das Leben ist nur ein Aufenthalt im Zahnarzt-Wartezimmer“. Er weiß wovon er spricht, er besucht den Zahnarzt selbst mehrmals jährlich und wartet meist nicht lange im Vorzimmer. Morgens geht er schwimmen und trainieren und sonntags fährt er mit dem Werksfahrrad von der Hauptstadt zum Popocatepetl und zurück, bei jedem Wetter. Er verzichtet nur darauf, wenn der Sonntag auf einen Dienstag fällt, da er am Dienstag eine andere unaufschiebbare Verpflichtung hat.
Wie aus all dem offensichtlich ist, hat Ignacio die Zeit stunden- und tageweise regelmäßig eingeteilt und wenn ihm kein Dienstag dazwischenkommt, weiß er ohne Uhr, wann die Zeit zum Essen von Grillen, Lammfleisch, weißen Maden und einem blutigem oder durchgebratenen Steak ist, er weiß, wo er ist, wenn er schwimmt.

EINE GUTE FRAGE Antonín Kosík

Vor vielen Jahren wurde Ignacio von seiner rothaarigen Verlobten Rebeca verlassen. Warum weiß niemand. Nacho ertrug die Trennung nicht leicht. Er verspätete sich zu einigen Terminen beim Zahnarzt, verschob die Sonntage auf Dienstag, erledigte die diensttägliche Verpflichtung sehr nachlässig und fiel gegen Morgen in einen unruhigen Schlummer, in dem er meist die Trennung von der Verlobten noch einmal lebendig durchlebte. Die Trennungen waren umso belastender, da Rebeca im Traum die verschiedensten Gestalten und Formen annahm. Ignacio fürchtete sich einzuschlafen. Das Leben tickte nicht wie Grillen, Lämmer, Maden, das Schwimmen und die Dienstage, sondern wie unzusammenhängend und eine Abfolge austauschbarer Trennungen mit Koffer, einer stummen Schwarzen im Badeanzug, einem sprechenden Fahrrad usw. Vergangenheit und Zukunft begannen sich bei Ignacio zu verflechten, hatte er sich von Rebeca getrennt oder sollte er sich jetzt von ihr trennen? War die Trennung einfach nur ein Traum? Kann er seinen Erinnerungen trauen? Soll er sich nicht erst jetzt mit Rebeca zusammensetzen, nur damit er sich nicht von ihr trennt? Sind Vergangenheit und Zukunft nicht dasselbe? Wie davon träumen, was uns erwartet, wenn das schon geschehen ist? Warum in Erinnerungen leben, wenn alles erst geschehen soll? Hat er sich von Rebeca eher getrennt, als er sich mit ihr verlobt hat? Warum verwandelt sich Rebeca in einen Koffer oder eine Giraffe? Fällt der Sonntag auf Dienstag oder der Dienstag auf Sonntag? Ignacio war am Rand der Erschöpfung, so jagten die Gedanken durch seinen Kopf. Hauptsache nicht einschlafen!
„Hauptsache nicht einschlafen!” wiederholte sich Ignacio. „Ich muss mich aufraffen. Morgens ins Fitness-Center oder ins Bassin, nachmittags Lämmer und Grillen, am Sonntag mit Hurra zum Popocatepetl. Hoffentlich wird am Sonntag nicht Dienstag sein.“ dachte er sich und in seinem Kopf begannen ihn der Koffer, die sprechende Giraffe und Rebeca zu jagen. Von den Zimmerwänden winkten ihm entgegenkommende Radfahrer zu. „Ignacio, Junge, reiß dich zusammen, tritt ordentlich in die Pedale“ riefen ihm die entgegenkommenden Radfahrer von den Zimmerwänden zu.EINE GUTE FRAGE Antonín Kosík Nacho hielt sich mit den Händen die Ohren zu und vergrub sich tiefer in den Sessel. „Ignacio“, rief ihm ein Riese im weißen Mantel mit einem riesigen Zahnbohrer zu „Ich bestelle dich für vergangenen Monat, ich gipse dir das gebrochene Bein ein. Und wir werden bohren.“ Am Nachmittag tauchte dann eine Delegation von Turnern aus dem Fitness-Center aus dem Schrank auf, sie kochten Ignacio Bohnen und räumten auf und gaben nicht nach, dass er den Zahnarzt, den Augenarzt und einen Berater für gesunde Ernährung, mit Schwerpunkt auf dem Erstgenannten besuchen müsse.
„Kann die Folge der Ursache vorausgehen?“ fragte Ignácio am nächsten Tag den Zahnarzt. „Sie kann.“ antwortete der Zahnarzt „Aber dann heißt die Folge Ursache. Vorbeugung ist wichtig. Sie waren schon lange nicht mehr hier. Wären Sie regelmäßig gekommen, müssten wir heute nicht bohren. Spülen Sie aus.“ Ignacio spülte aus. „Wie kann das sein, dass wir nicht hätten bohren müssen? Wenn ich regelmäßig gegangen wäre, hätte ich niemals eine sprechende Giraffe kennengelernt.“ dachte er sich.

Zeichnungen Antony Fachin