dezember 2012
Nummer 12

ALTER NATIVITAS 2012

Melina Scalise

 

ALTER NATIVITAS 2012

Was bedeutet es, heute geboren zu werden? Was bedeutet es, im heutigen Kontext das Licht der Welt zu erblicken? Welche Phantasien weckt heute das Bild eines Neugeborenen oder einer Geburt?
Auf diese Fragen haben wir über die Kunst zu antworten versucht, indem wir eine Gruppe von Künstlern gebeten haben, in zeitgenössischem Stil die Weihnachtskrippe darzustellen, die in unserem allgemeinen Kulturverständnis das Sinnbild für die Geburt darstellt.
Zwei Jahre nach unserer ersten vom Spazio Tadini organisierten Ausstellung zur Geburt 2010, wurde das gleiche Thema von Il Sextante nochmals wiederholt. Das Projekt, das dank des örtlichen Kulturdepartements in Pinzolo zu Gast war, wurde für die zweite Ausgabe der Ausstellung „Die Kunst der Geburt Christi“ in Zusammenarbeit mit dem Magazin L'Eco delle Dolomiti auf neue Künstler ausgedehnt.
Mit Sicherheit ist über die Jahre die Ikonographie zur Geburt von Jesus unversehrt geblieben. Ganz anders könnte hingegen heute das familiäre Umfeld und die Umgebung dargestellt werden, in welchen das Neugeborene in die Gesellschaft aufgenommen wird.
Ausgehend von einer visuellen Analyse der traditionellen Darstellungen der Weihnachtskrippe, ist es einfacher festzustellen, was heute davon übrigbleibt: das Kind. Das Ehepaar, Vater und Mutter, ist nicht mehr selbstverständlich (obwohl auch bei Jesus‘ Geburt Joseph nicht der natürliche Vater war), denn heute kann man auch nur ein Elternteil haben (künstliche Befruchtung oder Mietuterus) oder ein homosexuelles Elternpaar oder eine erweiterte Familie. Das Umfeld ist nicht mehr die Hütte oder das Haus sondern ein Gebärsaal, wo es weder Ochse noch Esel braucht, um den Raum aufzuwärmen. Diese Tiere sind auch im Familienalltag, für die Arbeit der Eltern oder für das Überleben der Familien nicht mehr notwendig. Hinzu kommt, dass heute die Geburt und einige genetischen Aspekte des Neugeborenen programmiert werden können, oder man kann wählen, im Cyberspace geboren zu werden: im Internet, in Second Life oder anderswo in der virtuellen Welt. Wo bleiben die Geschenke und die Besuche der Hirten und der Heiligen Könige? In den neapolitanischen Weihnachtskrippen tummelten sich unzählige Handwerker, Bauern und Kaufleute im „Dorf“, jeder mit einer ganz besonderen Aufgabe zum Wohle der Gemeinschaft. Wo sind diese Arbeiter heute geblieben? Wo sind diese geschäftigen Leute mit ihrer aktiven Arbeitsmoral geblieben? Und wo sind die „Mächtigen“, die vor den Kindern der Welt niederknien und ihnen Gold, Weihrauch und Myrrhe schenken? Diese Mächtigen beschränken sich heute darauf, ihnen eine Steuernummer zu geben oder sie mit der Staatsverschuldung zu beerben.

ALTER NATIVITAS 2012

Jedes Jahr, wenn sich Weihnachten nähert, denken wir über die Figur von Jesus, die Bedeutung, die seine Niederkunft als Sohn Gottes hat, oder das Geheimnis der Geburt nach. Gleichzeitig sehen wir ihn aber auch als einfachen Menschen, der dank seiner „Ideologie“ ein wichtiges Zeichen in der Gesellschaft setzte. Dies zeigt uns aber auch, dass jeder Mensch den Lauf der Geschichte allein mit seiner Willenskraft und Entschlossenheit ändern könnte. Ein Grund, um uns darauf zu besinnen, wie groß die Macht eines Einzelnen gegenüber der Stärke der Gemeinschaft sein kann.
Diese Überlegung macht Sinn, insbesondere in einer Epoche, in der sich über die Zeit die Überzeugung breit gemacht hat, dass der Einzelne machtlos ist gegenüber den Entscheidungsträgern, die in den internationalen wirtschaftlichen und politischen Lobbys ausgemacht wurden.
Entfernt man sich von der rein religiösen Vision, so sollte aus meiner Sicht Weihnachten nicht bloß als der „Geburtstag“ von Jesus sondern von uns allen betrachtet werden und in uns das Bewusstsein wecken über unsere individuellen Fähigkeiten, die Geheimnisse des Lebens und die Schönheit, dieses Leben in vollen Zügen zu erleben.
Dieser einfache Gedanke wird jedoch ständig geschmälert von kommerziellen Mechanismen und der Heuchelei rund um Weihnachten, die uns allen mindestens eine gute Tat gegenüber einem Mitmenschen aufzwängt. Diese gute Tat widerspiegelt sich im Ritual des „Schenkens“, das immer mit einem finanziellen Gegenwert einhergeht. Es scheint fast, dass 364 gute Taten im Jahr in Gleichgültigkeit untergehen, während wenigstens die eine Tat, die 365ste, dazu dient, sich den „Freipass der Güte“ zu „erkaufen“.

ALTER NATIVITAS 2012

Über die Jahrhunderte konnte dank der Darstellungen der Jesusgeburt in der Kunst festgestellt werden, wie sich die Auffassung der Geburt über die Zeit verändert hat. Die Künstler haben die Beziehungen zwischen den Figuren mehrmals geändert, haben Figuren entfernt oder hinzugefügt, die Intensität und die Richtung des Lichts verändert, um die Aufmerksamkeit auf andere Punkte zu lenken, neue Symbole verwendet oder die Landschaft umgestaltet.
Deshalb haben wir die Künstler erneut ersucht, die Szene der Geburt Christi aus der heutigen Sicht, im Jahr 2012, nachzubilden.

ALTER NATIVITAS 2012

Die in allen Kulturen existierende Magna Mater verkörpert die mütterliche Seite des Gottes, der Schöpfung, der Geburt.
Sie verkörpert die Kraft des Weiblichen und der Kreativität, die den Ursprung, all das was abstrakt ist, in Materie umwandelt und so die Reinkarnation ermöglicht. Es ist deshalb die Magna Mater, die zusammen mit der Geburt das neue Licht in die Welt trägt und ihre Liebe nährt, schützt und lehrt. Die Magna Mater ist in ihren zahlreichen Verkörperungen das Symbol aller in der Natur existierenden Formen.